Kommentar: Solidarität vs. Grundfreiheiten? Warum wir trotz Pandemie nicht in populistisches Denken verfallen sollen.
Momentan lassen sich zahlreiche Entscheidungsträger impfen: Kommissionspräsidentin von der Leyen, Kanzlerin Merkel, jüngst auch Bundesinnenminister Seehofer. Er ließ sich mit BionTech/Pfizer impfen, nachdem er sich gegen AstraZeneca entschieden hatte. Einige kritisieren nun sein Verhalten als “unsolidarisch”. Das Argument lautet: AstraZeneca sei für ältere Personen risikofrei, aufgrund der Knappheit des Impfstoffs hätte Seehofer einer anderen – jüngeren – Person den Impfstoff „gestohlen”.
Ist es in einer Pandemie unsolidarisch, sich für einen Impfstoff zu entscheiden, der (noch) nicht ausreichend verfügbar ist? Oder bleibt es eine private, ärztliche Entscheidung, die nichts in der öffentlichen Debatte zu suchen hat – auch bei Bundesministern, die eine Vorbildfunktion haben? In der Corona-Krise wurde wie nie zuvor das Spannungsfeld zwischen individuellen Freiheiten und kollektiver Verantwortung sichtbar. Die Regierung stand im letzten Jahr permanent vor der Aufgabe, Freiheit und Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Auch wir haben mehr denn je die Konsequenzen unserer Handlungen im Blick: Sie können für unsere Mitbürger*innen womöglich tödlich sein.
Viele Freiheitsrechte wurden während dieser Pandemie drastisch beschnitten. Die Versammlungsfreiheit wurde zeitweise eingeschränkt, Grenzen wurden geschlossen. Die Maßnahmen der Regierungen schienen manchmal auf guten, manchmal auf weniger guten Gründen zu beruhen. Zwar durften Büros offen bleiben, Schulen blieben aber geschlossen. Darüber hinaus wurden viele Alternativen nicht ausreichend in Betracht gezogen. Statt unsere Grenzen für eine unbestimmte Dauer zu schließen, mit negativen Folgen für den EU-Binnenmarkt und Grenzgänger, hätte man eventuell auch eine umfassende Test-Strategie verfolgen und sich besser mit den Nachbarländern abstimmen können. Die Entscheidung, die Impfung auf freiwilliger Basis zu belassen trotz der Gefahr, die vom SARS-Cov-2 Virus ausgeht, war allerdings verständlich, denn der Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wäre enorm gewesen.
Der Pandemie hat auch dazu geführt, dass Solidarität wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatten gerückt ist. Jeder von uns trägt kollektive Verantwortung gegenüber den anderen. Der Begriff der Solidarität wird in Krisenzeiten meist als Argument genutzt, um bestimmte Entscheidungen zu legitimieren – als Aufruf an die Bürger*innen, diese Entscheidungen zu verfolgen. Dennoch zeichnet sich zunehmend eine populistische Interpretation der Solidarität ab, die bestimmte Handlungen als „unsolidarisch” verurteilt. Solidarität sollten wir nicht allein auf die individuelle Ebene reduzieren, um Bürger*innen gegeneinander auszuspielen. Es geht hier nicht um einen Solidaritätswettbewerb. Wir sollten uns auch davor hüten, den Solidaritätsbegriff den Grundfreiheiten entgegenzusetzen: Kollektive Solidarität und individuelle Rechte sind in einer Demokratie gleichwertig. Was wir stattdessen brauchen, ist eine stärkere Institutionalisierung von Solidarität durch den Staat, und zwar indem der Sozialstaat wieder gestärkt wird und „systemrelevante Berufe” aufgewertet werden. Solidarität in der Pandemie sollte bedeuten, dass wir einen Staat wollen, der sich nicht immer weiter zurückzieht in der Hoffnung, dass der Markt alles besser regeln wird als er selbst, sondern dass wir öffentliche Güter – Infrastruktur, Gesundheitswesen, Bildung – nachhaltig produzieren und sie allen zur Verfügung stellen können. Darüber hinaus sollten wir sicherstellen, dass die Gleichheitsrechte – dass alle vor dem Gesetz gleich behandelt werden – besser in der Realität umgesetzt werden. Leider sind die Verhältnisse bisher noch so wie in George Orwells „Animal Farm“: alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als die andern.
Doch zurück zu unserem Ausgangsszenario: So egoistisch wir die individuelle Entscheidung Seehofers auch finden mögen, wir sollten dem Bundesinnenminister nicht die Wahlfreiheit des Impfstoffs absprechen. Kein Mensch sollte zu bestimmten medikamentösen Behandlungen gezwungen werden – auch in einer Pandemie nicht. Das befeuert nur die populistischen Diskurse, die ständig Nazi-Diktatur-Vergleiche anstellen. Der Staat sollte vielmehr sicherstellen, dass die Impfstoffe alle sicher sind und möglichst schnell zur Verfügung stehen, das Ganze in enger Zusammenarbeit mit der EU. Die Bundesregierung sollte eine möglichst breite Informationskampagne zu Risiken und Nebenwirkungen starten, damit alle Bürger*innen fundierte Entscheidungen treffen können. Dieser Informationspflicht geht die Bundesregierung in manch anderen Bereichen immer noch nicht nach. Beispielsweise haben Frauen noch immer nicht die Möglichkeit, sich umfassend über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren – trotz der Reform des mittelalterlichen Paragraphen 229a des Strafgesetzbuchs. Der Kampf um die Unversehrtheit aller Körper in einer Demokratie darf nicht aufgrund einer Pandemie - und einer populistischen Interpretation von Solidarität, die die Wahlfreiheit abspricht - aufs Spiel gesetzt werden.
Und was machen wir nun mit den vielen Impfskeptiker*innen, die jede Impfplicht entschieden ablehnen und sich selbst womöglich nur mit bestimmten Impfstoffen impfen lassen wollen, die aufgrund von Lieferengpässen aber nicht zur Verfügung stehen? Dafür gibt es andere Lösungsansätze, die die Grundfreiheiten weniger einschränken, und die keine autoritären Interpretationen von Solidarität benötigen. Wenn zahlreiche Bürger*innen irrationalen Verschwörungserzählungen mehr Glauben schenken als der europäischen Arzneimittel-Agentur oder der Bundesregierung, dann sollten wir das Problem von der Wurzel her angehen: Vertrauen in demokratische Institutionen wiederaufbauen und Desinformation bekämpfen. Darüber hinaus kann die Bundesregierung die Bürger*innen zu beeinflussen suchen. Zum Beispiel indem Impfzertifikate vergeben werden, mit der sie ihre Grundfreiheiten wieder erhalten können (weil sie niemanden mehr gefährden). Wenn geimpfte Personen in Urlaub fahren dürfen, ungeimpfte aber nicht, dann ist das eine legitime politische Entscheidung. Die Gründe hierfür sind einleuchtend: Ungeimpfte stellen eine Gefahr für andere dar und sind womöglich eine viel größere Last für das Gesundheitssystem. Der Staat – beziehungsweis die Allgemeinheit – sollte nicht die Kosten individueller Entscheidungen tragen, die unverantwortlich sind; gleichzeitig muss der Staat dabei aber sicherstellen, dass Grundfreiheiten in dieser Pandemie so gut wie möglich erhalten bleiben. Die Formel dafür würde lauten: So wenig Einschränkungen der Grundfreiheiten wie nötig, so viel Solidarität wie möglich.
Sophie Pornschlegel, Charlemagne Prize Academy Fellow 2020/2021
Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst beim Brüsseler Think Tank European Policy Centre (EPC) und Projektleiterin von Connecting Europe, eines gemeinsamen Projekts des EPCs und der Stiftung Mercator. Dort arbeitet Sie an den Themen Europapolitik und EU-Institutionen, deutsch-französischen Beziehungen sowie Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit. Aktuell ist sie Fellow der Karlspreis-Academy, wo sie zu EU-Solidarität in der Corona-Krise forscht und Handlungsempehlungen entwirft, wie die europäische Solidarität gestärkt werden kann.